Erlebbare
Psychologie
Unser Erleben beschreiben
«Ich empfinde körperlich, taste, schmecke, rieche, höre, sehe, denke, fühle, spüre, will und bin.»
Die Beschreibung unseres Erlebens in einem Satz
Hinzugefügt werden kann noch:
«Ich bin Aufmerksamkeit, die wandert, und Bewusstsein, das Wahrnehmen engt und weitet.»
Wir alle erleben in jedem Augenblick: Wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, haben Körperempfindungen, fühlen, denken, spüren, wollen, sind. Die ‹Inhalte› unseres Erlebens sind von Mensch zu Mensch und von Moment zu Moment unterschiedlich: Der eine sieht gerade eine belebte Strasse vor sich, die andere sieht die Seerose im Teich vor sich erblühen, die sie vor einem Jahr gepflanzt hat. Wir alle fühlen und denken, doch was wir in diesem Augenblick fühlen und denken, ist individuell.
Auch wenn die Inhalte unseres Erlebens unterschiedlich sind, so sind die ‹Ströme des Erlebens› bei jeder und jedem von uns gleich. Dieses sind die elf Ströme des menschlichen Erlebens. Alles menschliche Erleben findet in diesen elf Bereichen statt:
Die erste allgemeine Beschreibung (Theorie) des menschlichen Erlebens
Die Abbildung zeigt die elf Bereiche (Ströme) des menschlichen Erlebens und zugleich die drei Ebenen des menschlichen Seins auf Erden:
Körperliche Welt | Seelische Welt | das LEBEN SELBST
Unser Leben als Ganzes scheint zweierlei zugleich zu sein: Tun und Sein.
Was wäre noch übrig von uns, wenn wir nichts tun würden und nicht sind?
Vom Bewusstsein aus gesehen wäre das Leben nun reine Leere.
Aus der Aufteilung unseres Lebens in Tun und Sein ergibt sich eine Definition des Begriffes ‹Erleben›:
Erleben ist die passive Seite des Lebens, das, was zu uns fliesst, wenn wir nichts tun.
(Nichts-Tun ist im geistigen Sinne unmöglich. Im Geist bewegen wir immer etwas.)
Aus dieser Definition leitet sich der Begriff der ‹Ströme› des Erlebens ab.
Was geschieht in den Strömen unseres Erlebens? Woher stammt das Erlebte? Wer macht dieses Erleben?
Die Ströme sind wie Fenster, durch die wir als formloses Bewusstsein schauen. In jedem Strom zeigt sich etwas anderes.
Es ist eine Kunst, sich im wachen Erleben nicht von einzelnen Erscheinungen fesseln zu lassen und sich selbst als Erleber gewahr zu bleiben.
Klicke auf die Überschriften:
Bereich 1
+ Körperempfinden
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, stehe oder sitze bequem, atme tief ein und aus und richte deine Aufmerksamkeit auf den Innenraum deines Körpers.
Welche Ausdrücke zeigt dein Körper in diesem Augenblick? An welcher Stelle genau zeigt dir der Körper in diesem Augenblick Ausdrücke?
Nimm dir Zeit im Wahrnehmen deiner Körperausdrücke, im Lauschen auf die Sprache deines Körpers, ohne dich dabei in dein Denken und damit auch in ein Urteilen ziehen zu lassen.
Die Sprache des Körpers ist: hier ein Ziehen, dort ein Drücken, eine Reibung, Hitze, Spannung, ein Schmerz, Prickeln, Grummeln, Kribbeln und auch ein wohliges Pulsieren.
Atme tief ein und aus und nimm diese Eindrücke in dir wahr, ohne sie zu werten.
Der Körper ist das Tor zu unserer Seele. Nichts ist effektiver, um aus den Räumen des Denkens zu treten, um in ein bewusstes und vollständiges Erleben zu gelangen, als damit zu beginnen, im Raum des Körpers seiner Sprache zu lauschen.
Körperempfinden ist das Wahrnehmen der Eindrücke der innerkörperlichen Nerven.
In nahezu jedem Augenblick teilt sich der Körper in feinen und mitunter auch in groben Ausdrücken mit.
Körperempfinden ist in jedem Augenblick erlebbar, sobald es dir gelingt, wahrnehmend in den Raum deines Körpers zu gelangen.
Jedes Lebewesen auf der Erde hat Körperempfindungen. Auch eine Alge und ein Baum hat innerkörperliche ‹Nerven›.
© Zeichnung: «Sacred Mirrors – Die visionäre Kunst des Alex Grey», Verlag Zweitausendeins 1996
Bereich 2
+ Tasten
Die gesamte Oberfläche unserer Haut ist ein Sinnesorgan, mit dem wir Berührungen mit angrenzenden Körpern und auch mit bewegten Molekülen registrieren.
Wenn du möchtest: Schliesse einmal die Augen und taste ganz bewusst einen Gegenstand in deinen Fingern. Nun nimmst du die Beschaffenheit seiner Oberfläche, sein Gewicht, seine Kontur und auch seine Temperatur wahr.
Können wir mit unserer Haut Feuchtigkeit tasten?
Wenn es dir gelingt, dich ganz dem Tasten zu widmen, stellst du möglicherweise fest, dass dein Denken zum stillen Beobachter dieses Erlebens wird.
Tasten ist das Registrieren von Eindrücken mit der Haut.
Tasten ist in jedem Augenblick erlebbar. Es ist nicht möglich, den eigenen Tastsinn abzuschalten. Wohl aber können wir in Gedanken gefallen sein und die Eindrücke der Haut in unserem Bewusstsein ausblenden.
Bereich 3
+ Schmecken
Nahezu alles, was wir in den Mund stecken, enthält Geschmacksmoleküle. Mit der Zunge und der Haut im Mundinnenraum registrieren wir unterschiedliche Geschmackseindrücke.
Grundlegende Geschmacksrichtungen sind: süss, sauer, bitter, salzig, herb, scharf.
Wenn du möchtest: Nimm beim nächsten Essen einmal bewusst ein Stück von deinem Teller in den Mund und erkunde schmeckend, welche der sechs Geschmacksrichtungen in diesem Bissen enthalten sind.
Der ‹Geschmack› einer Speise ist zumeist die Verbindung von Geruchs- und Geschmackseindrücken. Kannst du mit zugehaltener Nase Wasser schmecken?
Schmecken ist das Registrieren der in den Mundraum gelangten Geschmacksmoleküle.
Die Wahrnehmung der Temperatur und Kontur einer Nahrung in unserem Mundraum ist ein Tasten und kein Schmecken.
Bereich 4
+ Riechen
Nahezu in jedem Augenblick sind in der Luft, die wir beim Einatmen durch die Nasenhöhle ziehen, Geruchsmoleküle enthalten, die unser Geruchssinn registriert.
Wenn du möchtest: Ziehe einmal langsam und bewusst die Luft hoch in deine Nasenhöhle und an ihr vorbei.
Stelle dir vor, du hättest einen viel feineren Geruchssinn. Bestimmt würdest du nun in der Luft, die du gerade einatmest, eine Vielzahl von Geruchsnuancen feststellen. Ahnst du in dieser Vorstellung etwas von den vielen Gerüchen, die in der Luft um dich herum liegen?
Wenn du dich ganz dem Riechen widmest, stellst du vielleicht fest, dass dein Denken, während du schnupperst, still ist.
Riechen ist das Registrieren von Geruchsmolekülen, die in unseren Nasenraum gelangen.
Je feiner der eigene Geruchssinn ist, desto mehr ist Riechen in nahezu jedem Augenblick erlebbar.
Bereich 5
+ Hören
Es ist ein Unterschied, zu hören oder sich dem Hören zu widmen.
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, atme tief ein und aus und werde dir des Schalls bewusst, der um dich ist. Nahezu in jedem Augenblick sind wir von Schall umgeben, von den Schwingungen, die sich von Schallquellen aus durch die Luft verbreiten, dabei auch durch Wände gelangen und den Raum um dich herum füllen. Nimm einmal bewusst den Schall wahr, der dich in diesem Augenblick umgibt.
Wenn du dich allem Schall zugleich widmest und dabei in deiner Mitte verbleibst, kannst du bemerken, wie dein Denken mit dir lauschend in Stille verweilt.
Hören ist das Wahrnehmen des in die Ohren eintreffenden Schalls.
Mit intaktem Hörsinn ist Hören in nahezu jedem Augenblick erlebbar.
Bereich 6
+ Sehen
Es ist ein Unterschied, zu sehen oder sich dem Sehen zu widmen.
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, atme tief ein und aus, lasse deinen Blick weit werden und werde dir des Lichtes bewusst, das um dich ist. Es kommt von der Sonne oder von Lichtquellen um dich herum. Das Licht reflektiert an den Gegenständen um dich und trifft in deine Augen ein.
Siehe einmal das Licht selbst, das in deine Augen eintrifft. Widme dich ganz dem bewussten Sehen. Wenn es dir gelingt, wirst du bemerken, wie dein Denken ehrfürchtig in Stille verweilt.
Sehen, das physische Sehen mit unseren physischen Augen, ist das Wahrnehmen des in unsere Augen eintreffenden Lichtes in all seinen, sich immer wieder ändernden Ausprägungen.
Mit intaktem Sehsinn ist Sehen in nahezu jedem Augenblick erlebbar.
+ Zwischenschritt
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, richte dich innerlich auf, atme tief ein und aus und nimm bewusst die Eindrücke deines Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und Körperempfindens zugleich wahr.
Dieses gelingt zumeist nur aus der eigenen Mitte und aus der Stille des Denkens heraus. Sobald wir uns aus dem geweiteten Wahrnehmen zurück in die Räume unseres Denkens ziehen, richtet sich unsere Aufmerksamkeit wieder auf einzelne Details innerhalb der weiten Palette von Sinneseindrücken; das Denken beschreibt und beurteilt einzelne und die vielen anderen gleichzeitigen Sinneseindrücke treten in das unbewusste Wahrnehmen zurück.
Übe dich darin, in bewusster Gelassenheit alle Sinnes- und Körpereindrücke wach in dich einströmen zu lassen, um dieses Gewahrsein, diese innere Stille und Präsenz zu geniessen.
Bereich 7
+ Denken
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, richte dich innerlich auf, atme tief ein und aus und richte deine Aufmerksamkeit auf den Raum hinter deinen Augen, auf den Ort deines Denkens.
Wenn du möchtest, zähle in Gedanken langsam von eins bis acht und höre nun auf zu zählen. Möglicherweise hast du nun deine Gedanken in dir gehört. Es sind zumeist Worte und Sätze in einer ‹tonlosen› Stimme. Mitunter haben Gedanken auch die Form von inneren Bildern und bewegten Szenen.
Es ist möglich, die Gedanken bewusst in sich zu hören und zu sehen und auch Momente zu erleben, in denen die Gedanken still sind.
Denken ist das Hören und Sehen von Worten, Sätzen und Bildern und im vertieften Denken auch das Wahrnehmen von weiteren Sinneseindrücken im Raum unseres Verstandes.
Denken ist mitunter ein inneres Gespräch, mal mit uns selbst, mal mit einem Menschen, den wir kennen.
Denken ist in jedem Augenblick bewusst erlebbar, sobald es gelingt, aus den Räumen des Denkens herauszutreten. Die Gedanken in uns sind erst hörbar und sichtbar, wenn wir ‹in unserer Mitte› sind und von hier aus die Geschehnisse im Denken betrachten.
Gedanken haben unterschiedlich hilfreiche Qualitäten: Es gibt unter ihnen wiederkehrende Sorgen, kreisende Gedanken, Ideen, Fantasien, Inspiration, Eingebungen und Erkenntnisse.
Je mehr es uns gelingt, bewusst zu fühlen, zu spüren und unseren Körper zu empfinden, desto besser können wir die Qualität und Herkunft der Gedanken in uns unterscheiden.
Wir Menschen der westlichen Welt sind derzeit von eindrücklichen Sinneseindrücken überflutet. Unser Verstand ist mit der Verarbeitung dieser Eindrücke oftmals überfordert, sodass wir es kaum ertragen, den Strom von Gedanken in uns bewusst zu sehen und zu hören.
PS: In der Abbildung symbolisiert der Baum unsere im Laufe des Lebens gewachsene mentale Struktur: Unser persönliches ‹So-ist-es-Netz›, in dem ein Gedanke mit dem nächsten verwachsen ist.
Bereich 8
+ Fühlen
Wenn du möchtest: Halte einmal inne, atme tief ein und aus und empfinde deine Stimmung.
Mit dem Fühlen ist es wie mit dem Riechen, Schmecken und Tasten auch: In jedem Augenblick ist ein Gefühl in uns, ein Gemisch aus den Grundgefühlen in immer wieder neuer Zusammensetzung. Nicht immer nehmen wir es bewusst wahr.
Gefühl ist die immer wieder neue Mischung aus den fünf Grundgefühlen in immer wieder neuer Gewichtung: Angst, Wut, Freude, Traurigsein und Liebe. Es gibt in jedem Augenblick nur ein Gefühl in uns, dieses kann als ‹Färbung› des eigenen Gemüts verstanden werden.
Die eigene Stimmung ist der Anteil von Freude im momentanen Gefühlsgemisch. Eine ‹hohe Stimmung› ist ein hoher Anteil von Freude im Gefühlsgemisch; eine ‹tiefe Stimmung› ist der geringe Anteil von Freude im Gefühlsgemisch. Die eigene Stimmung bewegt sich lebendig zwischen diesen Polen auf und ab und ist oftmals auch ‹mittel›, ‹etwas erhöht› oder ‹niedrig›.
Emotion ist das ‹Herausbewegen› des eigenen Gefühls in Form von Worten, Gesten und Taten (‹movere›, lat. = bewegen). Die eigene Wut, zum Beispiel, kann in innerer Ruhe und innerer Stärke ‹an der eigenen Seite› empfunden werden, ohne sie auf jemanden, etwas oder sich selbst zu richten.
Fühlen ist die immer wieder neue Färbung des eigenen Gemüts, die ohne Worte und Bilder auskommt.
Das eigene augenblickliche Gefühl ist wahrnehmbar, sobald wir uns der Färbung des eigenen Gemüts widmen.
Es gibt keinen Menschen auf Erden, der ohne Gefühl ist. Es gibt jedoch in der westlichen Welt viele, die sich ihres Gefühls nur selten bewusst sind oder das Gefühl in sich nur bemerken, wenn es sehr intensiv ist.
Jedes aus uns selbst heraus auftauchende Gefühl hat einen Sinn und ist eine Weisung, ein Hinweis unseres eigenen Selbst.
Fühlen und Denken stehen in uns wie Geschwister nebeneinander: jedes gleich mächtig und gleich weise. Wir werden als Menschen wieder ganz, wenn wir Fühlen, Denken und Wollen in uns in Liebe verbinden.
+ Die Eigenständigkeit der Ströme
Die Geschehnisse in den Strömen, die Sinneseindrücke, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, scheinen voneinander unabhängig zu sein; kein Ereignis in dem einen Strom bedingt sicher ein Ereignis in einem anderen Strom.
Die Geschehnisse im Sehen und Denken sind eigenständig: Ich blicke, wie schon so oft, aus dem Fenster vor mir und habe dabei oftmals andere Gedanken, obgleich der Anblick jedes Mal nahezu derselbe ist.
Die Geschehnisse im Körperempfinden und Denken sind eigenständig: Immer wieder einmal empfinde ich bewusst die Verspannung im Nacken und habe doch unterschiedliche Gedanken zugleich.
Die Geschehnisse im Fühlen und Denken sind eigenständig: Ich denke zum Beispiel: «Heute wird ein sonniger Tag» und kann dabei jedes mögliche Gefühl zugleich fühlen.
Und wir haben Gewohnheiten und Muster: Immer, wenn ich dieses Lied höre, werde ich wehmütig. Wenn ich Schmerz empfinde, ist meine Stimmung zumeist tief.
Das Empfinden von Schmerz und das Fühlen der tiefen Stimmung ist nicht fest miteinander verkoppelt: Wer einen mehr oder minder dauerhaft leichten Schmerz empfindet, hat dennoch zugleich oftmals eine erhöhte Stimmung.
+ Reine Gefühle
Angst, Wut, Freude, tiefe Stimmung, Traurigsein und Liebe sind reine Gefühle. Jede dieser Gemütsfärbungen ist in der Stille des Denkens fühlbar und hat damit keinen mentalen Anteil.
Zorn ist ebenso ein reines Gefühl, denn es ist die Mischung aus Wut und tiefer Stimmung. Glück ist ein reines Gefühl, denn es ist die Mischung aus Freude und Liebe. Mut ist ein reines Gefühl, denn es ist die Mischung aus Wut und Liebe. Ich kann Mut in mir empfinden und mein Denken ist zugleich still.
Traurigsein ist ebenso sowohl in tiefer, als auch mittlerer und hoher Stimmung fühlbar.
Andere Gemütsausdrücke, denen wir Namen gegeben haben, sind ein Gemisch aus Denken, Fühlen und mitunter auch Körperempfinden. Eifersucht, zum Beispiel, ist ein Gemisch aus Wut, tiefer Stimmung und einem mentalen Gebilde aus Vergleich und Vorwurf. Scham, zum Beispiel, ist ein Gemisch aus Angst, tiefer Stimmung und einem mentalen Gebilde aus äussere Gefahr und innerer Verletzlichkeit. Lust, zum Beispiel, ist ein Gemisch aus Freude, Wollen und einer körperlichen Erregung.
+ Liebe
Mit dem Wort ‹Liebe› benennen wir zweierlei zugleich: Zum einen ist Liebe ein Fühlen, der wohl sehnlichste und erfüllendste Ausdruck unseres Gefühls. Zum anderen ist Liebe ein magisches Band, das zwei Menschen im Besonderen verbindet. Diese Verbindung hält oftmals eine sehr lange Zeit und übersteht darin alle möglichen Geschehnisse in den Strömen des Erlebens der beiden Verbundenen.
Bereich 9
+ Spüren
Wir Menschen auf Erden sind in jedem Augenblick Körperwesen, Geist und Selbst zugleich. Als Körperwesen verfügen wir über die fünf physischen Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Zugleich nehmen wir die Eindrücke der innerkörperlichen Nerven wahr, wir empfinden körperlich (siehe Ströme 1 bis 6).
Als Geist verfügen wir über weitere Sinne, die sogenannten ‹höheren Sinne›. Die deutsche Sprache hält ein Wort hierfür bereit, das vor allem ihr Frauen im fortwährenden Sprachgebrauch über die dunklen Zeiten der Inquisition gerettet habt: ‹Spüren›. Danke für eure Stärke und Feinsinnigkeit.
Spüren ist kein Fühlen und auch kein Körperempfinden. Es ist ein Sammelausdruck für die höheren Sinne, im Englischen: ‹to sense›, was zeigt, dass es sich um Sinneswahrnehmungen handelt.
Je geübter du im Spüren wirst, desto mehr stellst du fest, das andere spürige Menschen in deiner Nähe nahezu gleiche Eindrücke haben.
Wer bewusst spürt, nimmt die derzeitige Enge oder Weite des eigenen energetischen Wesens wahr, die Weite der Öffnung des eigenen Herzens, die Dichte oder Leichtigkeit des ihn umgebenden Raumes, eine Vielzahl von energetischen Eindrücken aus dem Raum des eigenen Körpers, die wahre Stimmung eines Mitmenschen, den derzeitigen Gefühlsausdruck eines Mitmenschen, die Stärke des Willens, den er oder sie auf dich richtet, die Enge oder Weite des energetischen Feldes eines Mitmenschen, die Offenheit des Herzens eines Mitmenschen, den Wahrheitsgehalt dessen, was er oder sie spricht, unausgesprochene Absichten hinter dem Gesprochenen, die seelische Verletztheit eines Mitmenschen, die Qualität von Gegenständen, energetischen Feldern und Phänomenen in der Natur, Kraftorte, Energieübertragungen zwischen Menschen, seelenhafte Präsenzen, grosse kollektive Geschehnisse, auch wenn sie in weiter Ferne stattfinden, und noch vieles mehr, je nach Feinheit und Offenheit der höheren Sinne.
Spüren ist das Wahrnehmen der Eindrücke der höheren Sinne.
Spüren ist erlebbar, indem du aus den Räumen des Denkens heraustrittst und dich den Eindrücken der feinen Sinne widmest.
Wenn du möchtest: Tausche dich in diesem Üben des Spürens mit feinsinnigen Mitmenschen aus, um zu prüfen, was du wahrhaft erlebst und was nur eine Illusion des Denkens ist.
Bereich 10
+ Wollen und Nicht-Wollen
Wenn du möchtest: Halte einmal inne und forsche in dir: Ist in diesem Augenblick ein Wollen in dir?
Hast du schon einmal bewusst Momente erlebt, in denen du ohne Wollen warst, «alles Leben floss ganz von selbst» und du warst vollkommen in das EINE Leben aufgelöst?
Wenn du möchtest: Atme einmal tief ein und aus. Auch in ‹aufgelösten Augenblicken› hebt und senkt der Atem die Brust, schlägt das Herz und blinzeln immer wieder die Augenlider über die Augäpfel.
Dieser zehnte Strom des Erlebens ist der bislang geheimnisvollste unseres Erlebens: Der menschliche Wille.
Wer macht all das, was in diesem Augenblick geschieht? Geschieht ‹es›? Wie viel von ‹deinem Geschehen› bewirkst du selbst?
Die unzählig vielen feinen und groben Körperbewegungen, die Bewegungen der Psyche, des Gemüts, die Gefühle, die ‹auftauchen›, die Gedanken, die Worte, die von unserer Kehle geformt werden und durch unseren Mund die Welt betreten. Die, die den Mund nicht verlassen, weil etwas oder jemand in uns nicht aussprechen will.
In der Betrachtung der Erlebbarkeit des eigenen Willens, Wollens und Nicht-Wollens teilt sich das Geschehen in diesem Strom in drei ineinandergreifende Teile: (1) Wollen als Festhalten an einem Gedanken, (2) Wollen als Bewegungen des Körper aus sich selbst heraus und: (3) Wollen als gesamthaftes Geschehen im Leben, das einen Menschen über einen langen Zeitraum hinweg «an die Hand nimmt», vieles ‹geschehen lässt› und ihn oder sie zu etwas führt (Fügungen, Schicksal, gemeinsame Schritte).
Der Wille ist die Gestaltungskraft des Menschen. Ein Mensch ohne die Willensteile 1, 2 und 3 wäre in Körper, Psyche und Geist vollkommen lethargisch, würde innerlich und äusserlich nichts ‹machen› und damit auch nichts gestalten. Es sei denn, ein fremder Wille wäre Herr über Körper, Geist und Seele und würde alles Tun und Bewegen des zum Roboter verkommenen Menschen übernehmen.
Ein willensvoller Mensch kann sein eigenes Leben im weiten Masse gestalten und bewegt seine oder ihre Nächsten noch hinzu.
Manches Sprechen und Denken sind ‹leere Worte›, wenn sie nicht mit wahrem Wollen gefüllt sind.
Nicht-Wollen ist vor allem im Denken auffindbar. Zudem ist es auch eine Bewegung, das Zurückbewegen der Hände und des Oberkörpers, das Zurücktreten der Füsse und Beine, das Abwenden des ganzen Körpers. Ein Kleinkind tut dieses offenkundig, auch ohne dabei zu denken (?).
Wenn du möchtest: Halte immer wieder einmal inne und erlebe den Fluss deines Lebens in all seinen Aspekten, innerlich, körperlich und äusserlich.
Wer ist es, der dein Leben fliesst?
Geschrieben am 18.6.2022
Bereich 11
+ Reines Sein
Wenn du möchtest: Betrachte noch einmal die Abbildung des menschlichen Erlebens mit seinen elf Bereichen.
Wenn du dich soweit geklärt hast, dass du wahrhaft und wirklich jeden der ersten zehn Bereiche in dir erlebst, ohne dabei einer Illusion zu unterliegen, dann mag dir die folgende Übung gelingen:
Ziehe dich an einen geschützten Ort zurück, an dem dich möglichst wenig Sinneseindrücke erreichen. Sitze bequem mit aufgerichteter Wirbelsäule. Atme tief ein und aus und richte dich innerlich auf.
Schliesse nun die Augen und gehe nach und nach die ersten zehn Bereiche des menschlichen Erlebens durch. Nimm jeden Bereich mit seinen Eindrücken wahr und gehe gelassen innerlich weiter in die Ausdehnung deines Wesens in das Eine Unveränderliche.
Wenn du diese innere Weite, diesen inneren Raum wahrhaft findest, in dem dich keine Eindrücke der ersten zehn Bereichen noch erfassen, so erlebst du das tiefst-mögliche menschliche Erleben. Denn wir Menschen erleben immer, in jedem Augenblick. Erleben hört niemals auf.
Wenn du den inneren Raum deines Selbst erreichst, erlebst du das Reine Sein, unendlich weit, voller Reinheit und Frieden, liebevoll und unveränderlich in der Zeit.
Das Reine Sein ist das Erleben des Selbst in uns, das mit der eigenen Lebendigkeit, die alles Leben erst belebt, eng verwoben ist.
Das reine Sein ist für all diejenigen erlebbar, denen es gelingt, alles Erleben in den ersten zehn Bereichen in sich wach und bewusst anzunehmen, ohne sich von einzelnen Eindrücken umfangen zu lassen.
+ Der Ort der Aufmerksamkeit
Neben den bisher genannten elf Bereichen des menschlichen Erlebens: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Körperempfinden, Fühlen, Denken, Spüren, Wollen und Reines Sein ist noch zweierlei mehr erlebbar, das kein ‹Strom des Erlebens› ist, sondern vielmehr der Erleber und die Erleberin selbst:
Unsere Aufmerksamkeit, der Fokus unseres Erlebens, der Ort unseres Erlebens, ist mal konzentriert an einem bestimmten Ort im Raum, mal konzentriert im Raum des eigenen Körpers, mal im Raum des Denkens und mal weit aus der eigenen Mitte heraus ausgedehnt (Raum des Herzens, inneres Gewahrsein). Der Ort und die Weite der eigenen Aufmerksamkeit ist erlebbar.
Wenn du möchtest: Stehe einmal am Rand einer belebten Strasse und nimm nun wahr, wie deine Aufmerksamkeit von Mensch zu Mensch und Objekt zu Objekt springt. Übe dich darin, auch mitten im bewegten Geschehen deine Aufmerksamkeit zu dir selbst zurückzuholen.
Vielleicht gelingt es dir, auch inmitten von allerlei Sinneseindrücken so weit in deine innere Präsenz zu gelangen, dass du deine Aufmerksamkeit aus dir selbst heraus weit werden lassen kannst. Nun nimmst du all die Eindrücke in dir und um dich herum wahr, ohne von einem Geschehnis zum nächsten zu springen.
+ Das eigene Bewusstsein
Jede und jeder von uns besitzt ein eigenes Bewusstsein. Es ist die sich von Moment zu Moment wandelnde Weite des eigenen Wahrnehmens.
Mancher Mensch nimmt beim Spazierengehen die Anblicke um sich herum wahr, hört das Rauschen der Bäume und das Zwitschern der Vögel, riecht den Duft der Tannen, tastet den Untergrund durch die Schuhsohlen hindurch, fühlt das eigene Gefühl, empfindet den eigenen Körper und spürt dabei.
Ein anderer ist zur gleichen Zeit am gleichen Ort so sehr in Gedanken versunken, dass er die Eindrücke der anderen Bereiche des eigenen Erlebens nicht bewusst wahrnimmt.
Wer sich im bewussten Erleben übt, der und dem gelingt das Erleben des eigenen Bewusstseins. Es ist möglich, in sich wahrzunehmen, wie weit das Bewusstsein über die Bereiche des eigenen Erlebens ausgedehnt ist. Es ist möglich, in anderen Augenblicken bewusst zu erleben, wie sehr die eigene Aufmerksamkeit auf einzelne Geschehnisse (vor allem im Denken) konzentriert ist.
Bewusstsein ist die Weite beziehungsweise Enge des momentanen eigenen Wahrnehmens.
Das Engen und Weiten des eigenen Bewusstseins hat einen liebevollen Grund: Nicht immer ist es heilsam und hilfreich, die vielen Eindrücke äusserlich, körperlich und innerlich zugleich bewusst wahrzunehmen.
+ Tun
Wenn du möchtest: Frage dich einmal am Ende des Tages: «Was habe ich heute getan?» «Was habe ich heute in meiner Welt bewegt?»
Alles Leben scheint aus Tun und Sein zu bestehen, siehe oben. Das Erleben scheint mehr auf der Seite des Seins zu stehen, denn im rein wahrnehmenden Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Körperempfinden, Fühlen und Spüren tun wir scheinbar nichts.
Jemand, der im Garten am Teich sitzt, den Fröschen zusieht und dem Rauschen des Windes in den Bäumen lauscht, tut von aussen betrachtet nichts. Jemand, der im Garten den Rasen mäht, die Hecke schneidet, Unkraut jätet, kann am Abend mit Fug und Recht behaupten, er oder sie hat heute etwas getan.
Tun scheint dreierlei zu sein: Trennen, Verbinden, Bewegen. Ramana Maharshi sagte einmal: «Ein Meditierender gleicht einem laufenden Ventilator. Ein Betrachter mag feststellen: ‹Du tust ja gar nichts›, dabei drehen sich die Blätter des Ventilators so schnell, dass die Bewegung mit den physischen Augen nicht zu sehen ist.»
Unser Leben scheint mindestens zwei Ebenen zu umfassen: die physische, ‹äussere› Welt und die feinstoffliche, geistige, innere. Auch wenn wir im Aussen nichts bewegen und verändern, können wir im Geist viel bewegen, trennen, verbinden, für andere spür- und erlebbar.
Unser Sein scheint niemals zu beginnen und zu enden. Wir sind unaufhörlich. Es ist kaum festzustellen, dass wir mal mehr oder weniger sind.
Unser Tun scheint, von aussen betrachtet – vor allem aus Sicht manches Vorgesetzten – sehr wohl mal mehr und mal weniger zu sein.
Die Basis des Tuns ist die Bewegung. Ohne Bewegung des Körpers und Geistes ist kein Tun erlebbar. Die Erlebbarkeit des eigenen Tuns ist an der eigenen Bewegung festzustellen. Wobei es dem Menschen kaum möglich ist, sich in einem Augenblick weder im Körper noch im Geist gar nicht zu bewegen. Zumeist nimmt die Bewegung im Geist zu, je mehr die Bewegung des Körpers abnimmt. Sicherlich ist der Zustand erlebbar, dass der Körper in Ruhe sitzt und der Geist offen und rein wahrnehmend ist. Kann der so Meditierende nun mit Fug und Recht behaupten: «Ich tue nichts»?
Wir Menschen können unsere eigene Welt gestalten und auf unsere Nächsten einwirken, siehe auch Strom 10: ‹Wollen und Nicht-Wollen›. Ein Yogalehrer, der zudem Massagen gibt, bewegt und verbindet viel. Im Aussen betrachtet, trennt er kaum. Möglicherweise urteilt sein Geist jedoch täglich in ‹gut› und ‹schlecht›. Eine Handwerkerin sägt täglich Bretter, reisst alte Mauern ein und bringt den Schutt zur Halde. Sie trennt vieles, möglicherweise ist ihr Geist in diesem Tun jedoch ein steter Fluss.
Mit Händen und Geist können wir viel tun und gestalten. Auch unser Erleben ist vom eigenen Tun mitgestaltet: Körperempfinden verändert sich durch Aufrichten und Bewegen, Tasten verändert sich durch Berührung, Schmecken durch Einführen von Nahrung, Riechen durch hinwendungsvolles Schnuppern, Hören durch Hinhören, Sehen durch das Weiten des Blicks und Wenden des Kopfes, Denken durch Nachdenken, Ersinnen, Komponieren und Lösungen finden, Fühlen durch Heben oder Senken unserer Stimmung, durch Hinwendung oder Zuwendung zu uns selbst oder zu unseren Nächsten, Spüren durch die Bewegung an Orte und das Richten der eigenen Aufmerksamkeit, Wollen durch das Richten der eigenen Aufmerksamkeit.
So gesehen, ist nicht nur unser Sein unaufhörlich, sondern auch unser Tun. Wir scheinen in manchen Momenten mehr in der äusseren Welt beschäftigt zu sein und in anderen Momenten mehr in der inneren Welt. Manchen gelingt es, beide Welt zu verbinden und diese Ebenen wie das chinesische Zeichen für ‹König› zu durchdringen.
Wenn du dein Bewusstsein für dein Tun weiten möchtest, frage dich: «Was habe ich heute getrennt, was habe ich heute verbunden, was habe ich heute bewegt und verändert?»
Geschrieben am 30.7.2022
+ Umkehrschluss
Hier ist eine Prüfung zur Vollständigkeit der Beschreibung des menschlichen Erlebens:
«Was würden wir noch erleben, wenn unser Sehen schwarz und ohne Eindrücke wäre, wenn unser Hören still wäre, wenn wir nichts riechen und schmecken würden, wenn unsere Haut keine Tasteindrücke wahrnehmen würde, wenn unsere Körper keinerlei Körperempfindungen zeigen würden, wenn wir nichts fühlen würden, nichts spüren würden, nichts wollen würden und unser Denken still und leer wäre und wir damit weder Worte noch Bilder im Geist hätten?»
Das Reine Sein, ewig und unvergänglich, einig für jedes Wesen
Diese Beschreibung ist eine Einladung, einen Blick in sich selbst zu werfen und das Gesagte mit dem eigenen Wahrnehmen zu vergleichen.
Was bringt diese Beschreibung?
Es in sich selbst zu erleben, führt zum Leben im Gewahrsein.
Ein Leben im wachen Bewusstsein führt zu einer neuen Sicht unserer Welt und zu ihrer Klärung.
Ist diese Beschreibung vollständig? Fehlt noch ein Erleben, das kein Körperempfinden, Tasten, Schmecken, Riechen, Hören, Sehen, Denken, Fühlen und Spüren ist?
Schreiben Sie uns Ihre Antwort sehr gerne an: mail@erlebbare-psychologie.ch oder via Kontakt.
Entstanden aus einer Eingebung im Jahr 2002. Erstmals veröffentlicht 2003. Erneut veröffentlicht am 20.3.2015. Im Wikipedia am 22.4.2015. Viele weitere Veröffentlichungen, siehe: Impressum
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